Aufsicht über Gutachter: Griffige Kontrolle fehlt

Sozialversicherung · Eine neue Kommission des Bundes beaufsichtigt die Qualität von medizinischen Gutachten. Ihr Präsident kritisiert das bisherige System. Die Kommission darf jedoch nur Empfehlungen formulieren.

Die unabhängige Institution, die sich der umstrittenen Qualität in der medizinischen Begutachtung widmet, gibt es seit Anfang Jahr. Sie soll die Zulassung der Gutachterstellen, Kriterien zur Erarbeitung von Gutachten und ­deren Ergebnisse für alle Sozialversicherungen überwachen sowie öffentliche Empfehlungen zu diesen Themen aussprechen.

Die Bedeutung von Gutachten ist gross. In der Schweiz wurden in den vergangenen Jahren jährlich zwischen 70 und 100 Millionen Franken für rund 15'000 externe Gutachten der Invali­denver­sicherung (IV) ausgegeben. Eine Mehrheit der Rentenentscheidungen erfolgt heute unter Einbezug eines externen Gutachters. 2019 wurden gut 16'000 Neurenten ­gesprochen – eine Abnahme um 42 Prozent gegenüber dem Höchststand von 2003. Auch die Unfallversicherungen stützen sich bei ­ihrer Fallbearbeitung massgeblich auf externe medizinische Gutachten.

Die Eidgenössische Kommis­sion für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung nahm die Arbeit Anfang Jahr auf. Sie besteht aus dem Präsidenten Michael Liebrenz und zwölf Mitgliedern. Vertreten sind die Sozialversicherungen, die Gutachterstellen, die Ärzteschaft, die Neuropsychologen, die Wissenschaft, die versicherungsmedi­zinische Ausbildung sowie die ­Patienten- und Behindertenorganisationen.

Der Zürcher Rechtsanwalt Luzius Hafen, spezialisiert auf Haftpflicht- und Versicherungsrecht, bemängelt, dass die Anwälte in der Kommission nicht vertreten sind. Er legt jedoch grosse Hoffnungen auf den Präsidenten der Kommission, der über seine praktische Arbeit grosse fachliche Kompetenz und Unabhängigkeit bewiesen habe.

Fehlanreize fördern kurze Untersuchungszeit

Michael Liebrenz vom forensisch-­psychiatrischen Dienst der Uni Bern war vor seiner ­Ernennung zum Kommissionspräsidenten vom Eidgenössischen Departements des Inneren (EDI) mit ­einer Evaluation der medizinischen Begutachtung in der IV beauftragt worden. In seinem Bericht hiess es etwa: «Neben einer dysfunktionalen Kommunika­tion, auch über die Grenzen der gutachterlichen Kompetenz im Leistungsverfahren hinweg, ist insbesondere eine zu kurze Untersuchungszeit ein häufig kri­tisierter Mangel vor allem im ­Bereich psychiatrischer Untersuchungen.

Hier sind drei Aspekte zu betonen: Einerseits resultiert die (zu) kurze Untersuchungszeit aus der zum Teil pauschalen Entlohnung der Gutachter. Eine kürzere Untersuchung resultiert damit einerseits in einer Steigerung des erzielbaren Stundenlohns und andererseits in der Möglichkeit, mehrere Untersuchungen an einem Tag durchzuführen. Eine Einhaltung der geltenden Leitlinien bezüglich der Abklärungstiefe ist bei solchen Fehlanreizen nicht zu erwarten.»

Seit Jahren registriert die Patientenorganisation Inclusion Handicap bei ihrer Meldestelle zu  IV-Gutachten Kritik an den gleichen Ärzten und Instituten. Betroffene erzählen von Begutachtungsgesprächen, die nicht länger als 15 Minuten dauerten. Oder es wurden Gutachten erstellt, ohne dass der Arzt den Betroffenen überhaupt gesehen hatte. Behindertenverbände und Versicherungsanwälte bemängeln, viele IV-Ärzte seien nicht unabhängig und würden ihre Gutachten nach dem Geschmack der Versicherung ausstellen. Einzelne Ärzte und Institute würden mit solchen Gefälligkeitsgutachten bis zu mehreren Millionen Franken pro Jahr verdienen.

Dass das BSV Michael Liebrenz zum Präsidenten der Kommission vorschlug und der Bundesrat dies im November 2021 genehmigte, deutet darauf hin, dass ­Veränderungen angestrebt werden. Liebrenz verlangte in seiner Studie allerdings auch, dass die geplante Kommission «nicht nur öffentliche Empfehlungen aussprechen, sondern die Kompetenz zur Formulierung verbindlicher Vorgaben und zu deren regelmässiger Überprüfung erhalten soll». Als Aufsichtsorgan solle sie zudem die Kompetenz erhalten, «Gutachter und Gutachterstellen, welche die Vorgaben zur Zulassung nicht einhalten – respektive durch wiederholte qualitative Mängel in der Begutachtung auffallen, zu sanktionieren».

Heute kann die Kommission aber einzig Empfehlungen aussprechen. «Sanktionsmöglichkeiten stehen ihr nicht zu», kritisiert der Zürcher Rechtsanwalt Soluna Girón. Damit die Kommission eine griffige Aufsicht gewährleisten könne, müsse sie aber verbindliche Vorgaben machen können. Ansonsten drohe den Empfehlungen das gleiche Schicksal wie den vom Bundesgericht ursprünglich geforderten Begutachtungsrichtlinien der medizinischen Fach­gesellschaften, an die sich diverse Gutachter letzten Endes doch nicht hielten.

Der Neuenburger Rechtsanwalt Marc Zürcher, der für die Behindertenorganisation Procap in der Kommission sitzt, hofft jedoch, dass die Empfehlungen im Laufe der Zeit zu «verbindlichen Kriterien» werden – «nicht zuletzt durch die Rechtsprechung und die Praxis selbst». Kommissionspräsident Liebrenz pflichtet ihm bei: «Nach meinem Eindruck ist der politische Wille wirklich vorhanden, unsere Empfehlungen zu berücksichtigen.»

Zudem würden die Empfehlungen öffentlich bekannt gegeben. «Damit kann öffentlicher Druck entstehen, dass diese umgesetzt werden», sagt der Berner Psychiatrieprofessor. Ihre ersten Empfehlungen will die Kommission  in der ersten Jahreshälfte 2023 publizieren. 

Sicht der Versicherten soll erhoben werden

Der Kommission steht als Budget etwas mehr als eine Million Franken pro Jahr zur Verfügung. Laut Liebrenz hat die Kommission eine Fachstelle mit 330 Stellenprozenten geschaffen, die von ­einem Juristen, einem Arzt und einem Wissenschafter geführt wird und für das Tagesgeschäft zuständig ist. Administrativ sind die ­Mitarbeiter vom Bundesamt für Sozialver­sicherungen angestellt. Gemäss Liebrenz will die Kommission mittels eines anonymisierten Peer-Review-Verfahrens zufällig zusammengetragene Gutachten auf ihre Qualität überprüfen.

Die Untersuchungen sollen auch die Sicht der Patienten und Versicherten einschliessen. «Wir möchten wissen, wie die Betroffenen das Verfahren einer Begutachtung selbst erleben», erklärt Procap-Vertreter Marc Zürcher. Die in der Öffentlichkeit geäus­serte Kritik von Betroffenen weise grundsätzlich auf ein fehlendes Vertrauen in das gegenwärtige System der Begutachtung hin. Liebrenz: «Deshalb erachten wir konkrete Massnahmen zur Steigerung von Akzeptanz und Vertrauen als notwendig.» Letzten ­Endes müssten die Betroffenen den Begutachtungsprozess als fair erleben.